Craftbier Schweiz – Warum hier stockt, was in den USA fliesst

In den USA halten 9000 kleine Craftbier-Brauereien einen Marktanteil von 27 Prozent! Auch hierzulande liest man allenthalben «Craftbier ist im Trend» oder «1000 Kleinbrauereien in der Schweiz!», aber im realen Markt bewegt sich – fast nichts. Der Begriff Craftbier scheint vor allem Verwirrung zu stiften. Sind die Bierspezialitäten aus der Carlsberg- Brauerei Valaisanne auch Craftbiere? Sind es die IPA von Locher und Schützengarten? Oder ist ein Craftbier nur, was aus einer Kleinbrauerei wie Ueli in Basel oder Tramdepot Bern kommt?

Bierbrauer Martin Wartmann hat sich auf die Suche nach Gründen gemacht, weshalb sich in der Schweiz nur zäh bewegt, was in den Staaten in Strömen fliesst: Craft Beer!

Starten wir im Ursprungsland von Craftbier: In den USA wurde der Begriff Craftbier (bedeutet so viel wie handwerklich hergestelltes Bier) Ende 1980er zum Synonym für «anders schmeckendes Bier». Damals, als die grossen Bierkonzerne den US-Markt mit ihren leichten, gleich schmeckenden und sehr hellen Bieren überschwemmten, konzentrierten sich die aufkommenden Craftbier-Brauereien auf einen anderen Biertypus: ohne grossen Kühlaufwand leichter herzustellende, obergärige, aromatische, etwas dunklere und eher kräftiger gehopfte Biere.

Das war die Geburtsstunde von Ale und der ersten IPA – India Pale Ale

Die Bierrezepte stammten aus der irischen und englischen Brautradition. Es wäre damals keinem Start-up-Kleinbrauer in den Sinn gekommen, ein kaltvergorenes, helles Bier zu brauen, wie es die Grossen machten. Handwerksbier aus Kleinbrauereien musste zwingend anders schmecken.

Vergleich mit unseren Schweizer Verhältnissen

Zeitsprung ins Hier und Heute: Wa­rum entwickelt sich der Craftbier-­Anteil in der Schweizer Gastronomie eher schleppend? Was ist bei uns anders? Die hiesigen, offiziell über 1000 Kleinst- und Kleinbrauereien haben bekanntlich kaum wirtschaftliche Relevanz. Ich schätze den Anteil auf irgendwo zwischen 1 bis 2 Prozent – verglichen mit 27 Prozent in den USA. Das Bierangebot in vielen Gastronomiebetrieben ist nach wie vor übersichtlich, ergänzt durch irgendein zufälliges Exotenbier. Und in der gehobenen Schweizer Gastronomie kommt das Thema Bier – geschweige denn Biervielfalt – grundsätzlich noch fast nicht vor. Ausser Wein scheint es nicht viel zu geben.

Vollständiger Artikel Chef-Magazin

Schnappschuss von Martin Wartmann’s USA-Reise: Die sogenannte “Flight”-Auswahl im Yardhouse in Denver.
Schnappschuss von Martin Wartmanns USA-Reise

Wir haben 6 Gründe für die fehlende Wirtschaftlichkeit von Craftbier in der Schweiz identifiziert.

Konsumenten
Meiner Meinung nach fehlen die Bier-kompetenten Konsumentinnen und Konsumenten. Der Gast, der im Speiselokal hartnäckig nach einem IPA oder belgischen Amber verlangt, fehlt in der grossen Mehrheit. Das Wissen um die riesige Vielfalt, welche Bier bietet, ging wohl in den 1950er-Jahren in der Kartellmonotonie vergessen. Damals gab es das berühmte Sortiment Hell in der grossen Flasche, Hell in der kleinen Flasche, Helles in der Stange, und zur Abwechslung ein Helles ohne Alkohol.

Diese Wissenslücke in den Generationen vor 1980 müssen die nachfolgenden Generationen zuerst auffüllen. Die Zielgruppe für Craftbier ist unter 45 Jahre alt. Zum Glück gibt es das Internet und 1000 Schweizer Kleinstbrauereien – und damit immer mehr kompetente Brauer im Markt. Es bewegt sich etwas, wenn auch langsam. Nicht zuletzt weil Grosskonzerne bewusst auf dem Schlauch stehen. Ich komme darauf zurück.

Ausbildung
Die Gastronomie hat das Thema Bier vergessen. Es kommt in der höheren Ausbildung nur rudimentär vor. Zwar zeigen die vielen Biersommeliers von Gastrosuisse das grosse Interesse am Produkt. Eine erfreuliche Erscheinung, finde ich. Allerdings nur ein Tropfen auf dem heissen Stein. Oft sitzen nicht Gastronominnen und Gastronomen in solchen Kursen, sondern Aussendienstleute von Brauereien, private Bierfans und Hobbybrauer.

Solang aber die Chefs und F&B-Manager wenig Ahnung haben von Bier und Bierstilen, solange sie sich nicht informieren und solange sie sich nicht von den klassischen Vertriebswegen und Vertragsregelungen trennen, wird das Thema Bier nicht wirklich an Mitarbeitende an der Front weitergegeben. Deshalb existiert Bierberatung de facto nicht.

Lobbying
Es fehlt den vielen Klein- und Kleinstbrauern eine koordinierende Interessenvertretung, Lobbying, Netzwerkanlässe, Bierevents, Weiterbildungsmöglichkeiten usw. Klar, es gibt viele kleine Events. Was jedoch fehlt, ist eine Art koordinierende Instanz mit nationalem Einfluss. Ich erfahre den Schweizer Bierbrauer-Verein als Branchenorganisation mit primär politischen Aufgaben. Deren Marketinganstrengungen richten sich in erster Linie nach den Bedürfnissen der Industrie – und nicht der Craftbier-Szene.

Die Interessengemeinschaft der Klein- und Mittelstandsbrauereien betreibt gemeinsamen Einkauf und organisiert gelegentlich einen Marketingtag. Um die Mikrounternehmen kümmert man sich nicht. Im Gegenteil, die Freude am Boom der sogenannten Garagenbrauereien hält sich in Grenzen.

Martin Wartmann produziert sein eigenes Craftbier Pilgrim.
Martin Wartmann produziert sein eigenes Craftbier Pilgrim

Wissen
Die Katze beisst sich in den Schwanz: Weil der traditionelle Schweizer Konsument gegenüber anderen Bieren, die er nicht kennt, zurückhaltend ist (es fehlt das Wissen darüber) und entsprechend die Nachfrage fehlt, bleibt vielen der neuen Kleinen nicht viel anderes übrig, als mehrheitlich den gewohnten Bierstil untergärig Hell zu brauen. Damit unterscheiden sie sich jedoch nicht genug von den industriell hergestellten Bieren, und sie bleiben austauschbar.

Echte geschmackliche Spezialitäten, die nicht einfach aus einer bestehenden Sorte mutiert wurden, fristen in der Schweiz ein Schattendasein. Immerhin in einer wachsenden, aber immer noch kleinen Szene von Kennern und Fans. Solange sich die Nachfrage nicht ändert, ändert sich auch das Angebot nicht.

Marktstrukturen
Der Schweizer Biermarkt ist mehrfach geschlossen. Einerseits aufgrund von Verträgen und Brauerei-eigenen Offenausschank-Anlagen in der Gastronomie. Sie behindern die Vielfalt am Hahn. Andererseits durch die Logistik: Die Grossbrauereien dominieren mit ihren Depots und Tochterfirmen die Getränkeverteilorganisation in die Gastronomie. Ohne Logistik bleibt den Kleinen der Zugang zu vielen Kunden verwehrt. Als Alibiübung führen die Grossen zwar auch mal Biere der kleinen Mitbewerber im Sortiment – belegen diese aber mit happigen Logistikmargen, welche zu viel zu hohen Endpreisen führen und so das Wachstum behindern.

Im Schweizer Heimkonsum teilen sich Grossverteiler und Konzerne den Biermarkt mehr oder weniger unter sich auf. Sie legen die hohe Latte für die Belieferung. Für mich ist klar: Wenn sich die Braukonzerne mit den Grossverteilern unter eine Decke legen, mit Abstimmungen betreffend Preise, Margen und Werbeetats, dann haben die Kleinen das Nachsehen. Sie bleiben zwar punktuell im Regal, als willkommene Alibiübung für Regionalität und Vielfalt. Das ist aber meist verbunden mit viel Aufwand und sehr kleinen Margen – wirtschaftlich daher ohne Bedeutung.

Gross vs. klein
Der Kampf im Biermarkt tobt still und leise. Internationale Konzerne haben aus dem Debakel in den USA gelernt: Dort hatten sie den Trend zu Bierinnovationen verschlafen. Heute versuchen die Grossen mit dem verdeckten Aufkaufen via anonyme Beteiligungsgesellschaften, sich die eine oder andere erfolgreiche Craftbierbrauerei einzuverleiben. Soweit ich gehört habe, hat sich InBev dem Vernehmen nach einige Kleine geschnappt: Goose Island in Chicago, Redhook in Seattle und Newe­ngland, Widmers in Portland usw. Heineken hat sich Lagunitas angeeignet. Und das Verhältnis von Brookyln Brewery zu Carlsberg gibt zu Reden. Der dicke Scheck verführt immer mal wieder eine Craftbierbrauerei, die Seite zu wechseln.

Interessant: Jetzt erscheinen diese Craftbiere in europäischen Ladenregalen – und kein Mensch merkt, wer effektiv dahintersteckt. Ob diese Biere tatsächlich in Flaschen abgefüllt über den Atlantik importiert oder einfach hier in Lizenz hergestellt werden, wäre zu untersuchen. Jedenfalls versuchen die Konzerne mit eigenen, aufgekauften und gefakten Spezialitätenbieren den Nischenmarkt im Griff zu halten, bevor ihnen Ähnliches widerfährt wie in den USA. Und mit «im Griff halten» meine ich natürlich, dass sie den Abverkauf über Preis, Aktionen und Listungsbeiträge über die Regale der Grossverteiler so steuern, dass garantiert keine Kleinbrauerei und kein Start-up je eine Chance hat, das fürs Überleben nötige Geld zu verdienen.

Brauereifuehrung mit Bierverkostung.
Brauereifuehrung mit Bierverkostung

Wie geht’s weiter im Schweizer Biermarkt?
Anfang Mai dieses Jahres bin ich an die grösste amerikanische Craftbier-Messe gereist: die Craft Brewers Conference in Minneapolis. Weit über 10 000 Professionelle aus der Braurereibranche (ohne die Grossen!) und über 600 Aussteller haben gezeigt, wie wichtig das Thema Craftbier in den Staaten ist. Wenn ich meine Erfahrungen und Kenntnisse des amerikanischen Craftbier-Marktes zusammenfasse, sehe ich vier Hebel, die den Craftbier-Erfolg auch in der Schweiz beeinflussen können.

Hebel 1: Wahlfreiheit
Dominanz von hellem Bier am Zapfhahn bzw. die Brauerei-eigenen Offenausschank-Anlagen und Lieferverträge behindern den Aufbau von spannenden Bierportfolios. Das muss sich ändern.

Hebel 2: Ausbildung und Wissen
Das richtige und auf die (jüngeren) Gäste abgestimmte Bierangebot, zusammen mit Ausbildung und Information der Mitarbeitenden, ist Voraussetzung für Verkaufserfolge.

Hebel 3: Korrekte Kalkulation
Die Kalkulation mit Faktoren ist für Craftbiere tödlich – dadurch entstehen abgehobene Preise, die der Gast nicht mehr zahlt. Eine Deckungsbeitrags-Rechnung ist zwingend; dafür gibt es dann den Profit durch Volumen. Bier trinkt man in der Regel mehr als ein Glas.

Hebel 4: Neue Strukturen
Neue Trends brauchen neue Angebote, neue Logistikwege und neue Partner. Die Driver im Biermarkt sind mehr Information, eigene Marktbeobachtungen, Internet, Dosenbiere (!), Ausprobieren, Beschaffung über alternative Kanäle und E-Commerce. Die Chancen, mit Craftbier Gäste zu begeistern und Geld zu verdienen, sind ungebrochen gross, das zeigt der Erfolg in den USA. Man muss es nur richtig anpacken.

Darf man Bier «spritzen»?

Die überraschend hervorragend schmeckende Kombination aus Pilgrim Bieren und Grenadine-Sirup. Wieso das funktioniert und möglicherweise der nächste Sommerhit wird.
Weiterlesen